cash.ch: Herr Kalt, die Schweizerische Nationalbank (SNB) ist mit der Zinssenkung im März vorgeprescht. Für viele kam der Entscheid überraschend. Was lässt sich daraus lernen?

Daniel Kalt: Die SNB gibt uns nur quartalsweise gewisse Informationen. Noch im Dezember signalisierte sie mit ihrer bedingten Inflationsprognose, dass wir 2024 wieder mit Teuerungsraten von bis zu zwei Prozent rechnen müssen. Im März nun hat sie ihre eigene Prognose deutlich herunter korrigiert. Mit anderen Worten: Sie hat erst jetzt zugegeben, dass sie Ende 2023 zu pessimistisch war. Würde sie mit höherer Frequenz kommunizieren, hätten wir die Zinssenkung früher antizipieren können. Das ist sicher ein Learning.

Was nehmen Sie sonst noch mit?

Die Inflation ist schneller und kräftiger zurückgegangen, als auch wir es erwartet hatten. Besonders aber hat die Nationalbank ihre Unabhängigkeit von anderen Zentralbanken markiert. Das konnte sie sich leisten, weil die Inflation zügig zurückgekommen ist und nun relativ gut im Zielband von null bis zwei Prozent verankert scheint. Bleibt es dabei, kann die SNB nächste Zinsschritte ins Auge fassen.

Wie geht es mit den Zinsen wahrscheinlich weiter?

Der Franken hat sich gegenüber dem Euro und dem Dollar abgeschwächt. Da gilt es jetzt, die Balance zu halten. Darum wird die SNB auch auf die Europäische Zentralbank (EZB) schauen. Diese hat kürzlich klar signalisiert, dass im Juni die erste Zinssenkung folgt - sofern es keine grossen Überraschungen gibt. Wenn die EZB diesen Zinsschritt unternimmt, wird die SNB wahrscheinlich nachziehen.

Allerdings schwindet in den USA der Optimismus für eine rasche Zinssenkung zusehends.

Offenbar, ja. Die amerikanische Notenbank (Fed) wird im Juni noch nichts machen, sondern frühestens im Herbst. Doch der Hauptreferenzpunkt für die SNB bleibt die EZB. Wenn der Zinssenkungszyklus in Europa eingeläutet ist, muss man von weiteren Zinsschritten nach unten im Laufe des Jahres ausgehen. Wir rechnen mit Senkungen im Juni und im September um je 0,25 Prozent. Bei einem Leitzins von 1 Prozent wird die SNB wahrscheinlich einen Marschhalt einlegen. Denn dieses Zinsniveau ist neutral, allenfalls leicht expansiv.

Inwiefern würden sich diese Zinsschritte in ein grösseres Bild einfügen? Im Juni 2023 hat die SNB den Leitzins zum letzten Mal erhöht, im September hat sie ihn belassen und in diesem Frühjahr hat sie ihn gesenkt.

Ich glaube, das alles passt gut zusammen. Die Zentralbanken wissen genau, wann sie eine Zinsänderung vornehmen - sei es nach oben oder nach unten. Ihre Zinspolitik wirkt in der Realwirtschaft erst mit 9, 12, manchmal 18 Monaten Verzögerung, also nicht unmittelbar, sondern mittelbar: Höhere Zinsen bremsen die Wirtschaft und bremsen die Nachfrage. Erst über die Nachfragedämpfung kommt die Inflation herunter. Diese Verzögerungen in der Wirkung sind lange und zum Teil variabel. Das macht es schwierig. Die Kunst ist es, die Zinsen so hochzuziehen, dass sie tatsächlich wirken, also die Inflation senken. Man muss die konjunkturelle Abkühlung voraussehen, die aufgrund des Bremsmanövers kommen könnte und eine Rezession vermeiden. Daraufhin kann man wieder von der Bremse gehen oder sogar Gas geben. Das macht die SNB im Moment. Und so, wie die gesamtwirtschaftliche Lage sich derzeit präsentiert, stimmt der Bogen, den die SNB spannt. Insofern können wir mit einem Leitzins von einem Prozent per Ende Jahr rechnen. Aber eben: Die Zentralbanken beobachten die Entwicklungen permanent und versuchen zu beurteilen, ob sie noch auf die Bremsen treten müssen oder ob sie schon wieder Gas geben müssen.

Wie erfolgreich ist die Nationalbank in dieser Inflationsbekämpfung tatsächlich, wenn man bedenkt, dass seit dem Sommer 2022 die Preise für Öl und Gas gesunken sind?

Diese Energiepreise kann die SNB effektiv nicht beeinflussen, dafür ist die Schweiz im Weltmassstab zu klein. Die Öl- und Gaspreise richten sich primär nach der globalen Konjunktur, beeinflussen die Inflation in der Schweiz aber sehr stark. Generell hat die SNB zwei Kanäle, die Zinspolitik und die Währungspolitik. Die höheren Zinsen haben die Bauwirtschaft gebremst, es wird nicht mehr so viel gebaut, was die Konjunktur abkühlt. Direkter wirkt die Währungspolitik. Die SNB hat ab dem Moment, als die Inflation hoch war, Devisen verkauft und so den Franken gestärkt. Das hat die importierte Inflation gedämpft - was wesentlich zu den tiefen Teuerungsraten in der Schweiz beigetragen hat.

Von sinkenden Zinsen können Impulse auf den Immobilienmarkt ausgehen. Was erwarten Sie?

Im Moment spüren wir noch die Bremswirkung von den steigenden Zinsen. Zudem hat die SNB den Leitzins erst um einen Viertelprozentpunkt gesenkt. Das ist in den Überlegungen zu einer Immobilienfinanzierung marginal. Allerdings sind 1,5 Prozent Leitzins für Schweizer Verhältnisse schon ordentlich hoch, weshalb in der Bauwirtschaft und bei den Investoren eine gewisse Zurückhaltung bemerkbar ist. Es wird eher weniger gebaut als früher. Bis der Trend sich umkehrt und man wieder mehr Bagger auf Baustellen sieht, dauert es. Denn eine Siedlung mit 150 Wohnungen zu bauen, braucht nunmal Zeit. Der Investor muss bereit sein, das Projekt muss geplant werden, dann gibt es komplizierte Bewilligungsverfahren und Einsprachen, bevor der Spatenstich erfolgen kann. Zudem sind die Baukosten hoch. Zugleich haben wir aufgrund der Zuwanderung deutlich mehr Nachfrage nach Wohnraum. Alles in allem bedeutet dies Wohnungsknappheit. Um daran etwas zu ändern und dem Immobilienmarkt Schub zu verleihen, müssten die Zinsen viel stärker als bisher fallen. Wir sind in einer Situation, die sich wahrscheinlich nicht so schnell auflösen wird.

Was bewirkt die Regierung?

Bedenklich ist, was in Städten wie Genf und Basel passiert: Die Mietzinsdeckel. Da fragt sich der Investor natürlich, ob er eine Liegenschaft noch energetisch sanieren oder verdichten soll.

Sie gehen von weiterhin steigenden Immobilienpreisen aus?

Diese werden im Wohnbereich kaum sinken. Wenn man das Angebot verknappt, die Nachfrage steigt und Überregulierung hinzukommt, sind steigende Preise absehbar. Aus ökonomischer Sicht ist der Fall klar.

Vor 20 Jahren konnten sich drei von fünf Haushalten ein Eigenheim leisten, gegenwärtig kann dies noch einer von sechs Haushalten. Was raten Sie Leuten, die sich für ein Eigenheim interessieren?

Wer das Ziel hat, eine Familie zu gründen und sich ein Eigenheim zu leisten, wird mit Sparen früh anfangen müssen. Seit den 1990er-Jahren beschränken die Behörden, wohl nicht grundlos, den Pensionskassenvorbezug zum Eigenheimerwerb. Man wollte Härtefälle vermeiden - Leute, die ihr Pensionskassenvermögen verlieren, wenn die Häuserpreise stark fallen. Zudem gelten strikte Regeln bei der Hypothekarvergabe. Eine junge Familie bekommt von der Bank nur dann eine Hypothek, wenn sie diese auch bei einem Zins von fünf Prozent tragen kann. Somit kann man den Leuten nur zum Sparen und zur Eigenkapitalbildung raten.

Inwiefern sind Regionen ausserhalb der Zentren wie Zürich eine Ausweichmöglichkeit?

Im Jura oder in der Gegend von Solothurn ist es landschaftlich durchaus schön. Dort findet man auch Orte, wo die Preise nur halb so hoch sind wie in Zürich. Doch das Wohnen an solchen Orten kostet in anderer Hinsicht: Zeit, die man für das Pendeln zum Arbeitsplatz in die Zentren aufwenden muss.

Wo sehen Sie den Schweizer Franken gegenüber dem Euro und dem Dollar?

Den Euro erwarten wir bis Ende Jahr in einer Spanne von 95 Rappen bis einem Franken. Wenn sich der Franken zu stark abschwächt und der Euro deutlich über einen Franken geht, dürfte die SNB ihre Bilanz durch Devisenverkäufe abbauen. Damit würde der Franken wieder stärker. Wenn der Kurs unter 95 Rappen je Euro fällt, wird es für die Exportwirtschaft schwierig. Da würde die SNB wohl zumindest verbal dagegen halten. Darum scheint mir ein Kurs von 95 Rappen bis einen Franken je Euro vernünftig. Wobei der Franken gegenwärtig bei der Parität zum Euro fair bewertet ist.

Wie sieht es gegenüber dem Dollar aus?

Wir sehen den Dollar bis Ende Jahr bei 85 bis 90 Rappen. Es ist zwar möglich, dass der Dollar über 90 Rappen bleibt, wenn die amerikanische Notenbank Zinssenkungen hinausschiebt. Sobald aber die Zinsen in den USA fallen, dürfte sich der Dollar im Bereich von 85 bis 90 Rappen einpendeln.

Zurzeit beträgt die Inflationsrate in der Schweiz ein Prozent, und die Nationalbank rechnet damit, dass die Rate mittelfristig im Zielband von null bis zwei Prozent bleiben wird. Welche Prognose stellen Sie?

Ja, das ist auch unser Basisszenario. Dabei nehmen wir an, dass eine tiefe Rezession und eine ölpreistreibende Eskalation im Nahen Osten ausbleiben. Gerade vor den US-Präsidentschaftswahlen wird der Druck auf Israel hinter den Kulissen hoch sein, den Iran nicht direkt und offen anzugreifen, sondern die Hamas im Gazastreifen so weit wie möglich unschädlich zu machen. Doch bei einem Ölpreis von 120, 130 oder 140 Dollar würde die Inflation sicher anziehen und wohl die Zwei-Prozent-Marke übersteigen.

Wie sehen Sie den Konjunkturverlauf in diesem und im nächsten Jahr?

Die Schweizer Wirtschaft wird knapp unter dem Trendwachstum bleiben, das Bruttoinlandsprodukt dürfte dieses Jahr um 1,3 Prozent und nächstes Jahr um 1,5 Prozent wachsen. Das ist nicht berauschend viel, aber es ist okay. Besser läuft es in den USA, während Deutschland sich am Rande einer Rezession bewegt. Insofern liegen wir mit 1,3 respektive 1,5 Prozent Wachstum in einem mittleren Bereich. Aber klar, es gibt immer noch Risiken, zum Beispiel Kriege.

Die deutsche Wirtschaft ist seit 2019 praktisch nicht gewachsen, die Schweizer Wirtschaft hat hingegen mehr als sechs Prozent zugelegt. Worauf führen Sie diese Abkoppelung der Schweiz von Deutschland zurück?

Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist der Privatkonsum in der Schweiz robuster gewesen als in Deutschland. Das hängt mit den unterschiedlich hohen Inflationsraten zusammen. Denn es ist ein Riesenunterschied, ob man wie in Deutschland zwölf Prozent mehr für den täglichen Einkauf bezahlt oder nur drei Prozent mehr wie bei uns.

Und der zweite Grund?

Deutschland hat strukturelle Probleme. Die Automobilindustrie leidet angesichts des Tempos der technologischen Entwicklungen, derweil andere Autobauer immer stärker aufkommen. Zudem ist die Stimmung in Deutschland nicht gut. Die Ampelregierung macht auch keine besonders kohärente Politik - Stichwort Energiepolitik. In der Summe wird weniger investiert und weniger konsumiert. Die Negativspirale dreht - nicht apokalyptisch, aber eben doch.

Was ist in der Schweiz besser?

Wir haben einen viel besseren Energiemix. Wir haben viel Wasserkraft und wir haben die Atomkraftwerke nicht abgestellt. Zudem haben wir einen flexibleren Arbeitsmarkt. Allein das hat uns geholfen. Und wir sind  - zum Glück - etwas weniger regulierungswütig. So hat die Schweiz eine Reihe von Vorteilen gegenüber Deutschland, die insgesamt einen Unterschied machen.

Hat die Schweiz auch Branchen, die im Vergleich zur Autoindustrie weniger konjunkturanfällig sind?

Das ist schwierig zu sagen. Wir haben auch viele Zulieferer in der Automobilindustrie und eine starke Industriebasis. Jedoch haben wir eine nach wie vor sehr wertschöpfungsstarke Finanzbranche und eine Pharmaindustrie, die sehr gut läuft. Also ja, insgesamt haben wir durchaus einen Branchenmix, der uns weniger anfällig für Schocks macht als Deutschland.

Wie dauerhaft wird die Abkoppelung der Schweiz von Deutschland sein?

Eine vollständige und dauerhafte Abkoppelung wird es wahrscheinlich nicht geben. Denn letztlich sind wir eng miteinander verflochten. Das kann im umgekehrten Sinne von Vorteil sein - dann, wenn Licht am Ende des Tunnels erscheint. Zum Teil sehen wir es schon in anderen europäischen Ländern. Spanien läuft recht gut, und Frankreich steht besser da als unser nördlicher Nachbar. So oder so sollten wir unsere Flexibilität und unseren Pragmatismus erhalten - damit wir auf Krisen, die immer wieder eintreffen, gut reagieren können.

Daniel Kalt ist seit Oktober 2010 Chefökonom der UBS. Für diese Bank ist er insgesamt seit mehr als 27 Jahre tätig. Sein Studium der Wirtschaftswissenschaften absolvierte er in den 1990er-Jahren an der Universität Zürich. Promoviert hat er im Jahr 2000 an der Universität Bern. Daniel Kalt ist verheiratet und hat zwei Kinder.